Aus Anlass seines hundertjährigen Bestehens hat das Verfassungsgericht des Kantons Bern ein Symposium mit Referaten und Podiumsgesprächen in der Universität Bern durchgeführt. In einem Sammelband wurden die Beiträge und weitere Aufsätze zur Entstehung und Entwicklung des schweizweit ersten organisatorisch selbständigen Verwaltungsgerichts zusammengefasst.
Inhaltlich gliedert sich der Sammelband in einen Teil, der sich mit geschichtlichen Etappen der bernischen Verwaltungsgerichtsbarkeit befasst oder die während mehreren Jahrzehnten unabhängig davon verlaufende Sozialversicherungsgerichtsbarkeit zum Thema hat. Damit wird ein Einblick in die bernische Justizgeschichte und die Entwicklung kantonaler Verwaltungsgerichtsbarkeit vermittelt. Wer sich durch die 600 Seiten des Sammelbandes durchliest, findet neben nützlichen Informationen über die Verwaltungsgerichtsbarkeit auch spannende Darstellungen des verwaltungsgerichtlichen Alltags.
Weitere Beiträge befassen sich mit der Rechtsprechungstätigkeit des Gerichts, mit zentralen verfassungsrechtlichen, prozessualen und gerichtsorganisatorischen Aspekten. Andere behandeln institutionelle Fragen der Verwaltungsrechtspflege und der Berner Justiz. Diese Artikel richten sich eher an ein sachkundiges Publikum. Da sich verschiedene Aufsätze in erster Linie an die Fachspezialisten richten, werden sehr generös Abkürzungen verwendet, was für Aussenstehende aber die Lesbarkeit erschwert. Wer bei VRPG, EG KVG, EMRK, VGE I oder aBV nicht gleich den richtigen Bezug zum entsprechenden Erlass herstellen kann, verliert beim Lesen Zeit oder den roten Faden. Ein Abkürzungsverzeichnis und ein Register hätten die Orientierung über die Beiträge sowie die Lesbarkeit des Buches verbessert.
Geschichtlich Interessierte werden sich besonders denjenigen Beiträgen zuwenden, die sich mit der Geschichte und Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Kanton Bern befassen. Dass der Kanton bei der Einführung und dem Aufbau einer Verfassungsgerichtsbarkeit schweizweit eine Vorreiterrolle spielte, zeigt, dass Bern im 19. Jahrhundert nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch beim Aufbau einer modernen Justiz zu den führenden Kantonen in der Schweiz zählte.
Eine frühe Form, die Verwaltung zu kontrollieren, kannte Bern bereits im Ancien Régime, wo der Kleine Rat nach dem Modell der Administrativjustiz in Streitigkeit zwischen Verwaltung und Bürgern urteilte. Da die politische Behörde der Verwaltung in der Regel näher stand als dem sich beschwerenden Volk, entwickelte sich im 19. Jahrhundert unter Einfluss des deutschen Liberalismus ein anderes Modell, das Justizstaatsmodell, bei dem Zivilgerichte entscheiden sollten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Ruf nach einer besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit laut, weil man den zivilen Richtern wenig sachgerechte Kompetenz zutraute. So entstand auf der Grundlage der Kantonsverfassung von 1893 das Gesetz betreffend die Verwaltungsrechtspflege, das 1910 in Kraft trat. Damit erhielt der Kanton Bern das erste unabhängige Verwaltungsgericht der Schweiz, dessen Kompetenzen und Organisation bis heute laufend an die Bedürfnisse angepasst werden.
Besonders vergnügt hat sich der Rezensent beim Lesen von zwei Beiträgen: Der Artikel Streiflichter auf 100 Jahre Rechtsprechung bringt einige skurrile und amüsante Fälle aus den Akten des Verwaltungsgerichts ans Tageslicht. Im abschliessenden Beitrag nimmt der Satiriker Heinz Däpp, wie in seinen bekannten Radiobeiträgen mit den Grossräten Kaderli und Chlütterli, auch das Verwaltungsgericht auf die Schippe.
Aufbau und Struktur des Sammelbands ermöglichen es, je nach Interesse das herauszuholen, was man sucht oder finden möchte.
Zitierweise:
Jürg Segesser: Rezension zu: Bernische Verwaltungsgerichtsbarkeit in Geschichte und Gegenwart. 100 Jahre Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Bern: Verlag Geiger AG 2010. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 56-57.